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Auf der Suche nach der Zeit von Morgen

Raphael Haumont, Forscher der physikalischen Chemie, ist Dozent für die "Cuisine du Futur" an der Universität Paris Saclay, die Les vergers Boiron unterstützt. Hier trifft Wissenschaft auf Kulinarik.

Raphael Haumont, 2013 haben Sie zusammen mit dem Sternekoch Thierry Marx an der Universität Paris Saclay das Centre Français d'Innovation Culinaire (CFIC - französisches Zentrum für kulinarische Innovation) ins Leben gerufen. Können Sie uns die großen Themen zusammenfassen, die Sie in Ihrer Forschung behandeln?

Die Aufgabe des CFIC und unserer Recherchen ist es, die großen Herausforderungen der Ernährung und der Essenszubereitung von heute und morgen unter verschiedenen Aspekten wissenschaftlich zu betrachten: Wohlbefinden, Gesundheit, nachhaltige Entwicklung und Umweltschutz, aber auch die Entdeckung neuer Geschmacksempfindungen. Wie erforschen, wie wir - einzeln oder zusammen - ohne Verzicht auf Gaumenfreuden besser produzieren können, aber auch, wie wir durch Schaffung einer neuen Art des Kochens und einer neuen Ästhetik besser und weniger essen können. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Mit meinen Studenten haben wir einen Prototyp für ein Getränkebehältnis aus Pflanzen ausgearbeitet. Mit dem Prinzip der Verkaspelung haben wir eine Kugel aus Algen geschaffen, die die Größe eines Tennisballs hat. Man kann einen Trinkhalm hineinbohren, um den Inhalt zu trinken. Dahinter steht die Idee, eine biologisch abbaubare und sogar essbare Verpackung anzubieten, die Getränkedosen und Flaschen ersetzen kann. Eine Version dieser Verpackung wurde übrigens vom französischen Astronauten Thomas Pesquet mit ins All genommen.
 

Oft wird die Küche, die Sie erforschen, die Küche des Chefs Thierry Marx und anderer, als Molekularküche qualifiziert. Wie halten Sie davon?

Ich mag diesen Begriff nicht aus mehreren Gründen. Als erstes gewinnt man den Eindruck, unsere Küche hätte mit Chemie zu tun. Unser Ansatz gründet sich zwar auf dem Verständnis der molekularen Aktion, aber eher in physikalischer Hinsicht. Um meine Arbeit zu definieren, ziehe ich persönlich den Begriff Bio-Mimetismus vor. Das heißt, wir versuchen unter kontrollierten Bedingungen nachzumachen, was die Natur seit Millionen von Jahren sehr gut macht. Dieser Kontrollbegriff ist der Kern unseres Ansatzes, insbesondere bei der Meisterung der Temperaturen. Überspitzt kann man sagen, dass sich unsere Art zu Kochen seit der Steinzeit kaum verändert hat. Wir erhitzen nach wie vor einen Behälter aus Metall und drehen ein bisschen am Temperaturknopf.
Wenn wir Lebensmittel überhitzen, zerstören wir viele Nährstoffe und Vitamine. In unseren Kochexperimenten verwenden wir sowohl Hitze wie Kälte. Dabei heraus kommt zum Beispiel das famose Stickstoffeis, bei dem flüssiger Stickstoff unter Druck mit -180°C im Raum verdampft.
 
Nun bereitet Raphael Haumont ein Sorbet mit Mangopüree Les vergers Boiron. Er mixt es an und gießt Flüssigstickstoff hinzu. Das Ergebnis: Ein cremiges Sorbet, ohne Zucker und anderen Zusätzen, das den Geschmack der frisch gepflückten Mango hat.
 

Wie arbeiten Sie in geschmacklicher Hinsicht?

Auch hier besteht unser Ansatz darin, Techniken zu verwenden, die das herausziehen, was das Grundprodukt an natürlichem Geschmack besitzt. Um es mit dem katalanischen Chef Ferran Adrià zu sagen: Wir versuchen, eine "Techno-Emotion" zu schaffen. Das, was wir Geschmack nennen, besteht eigentlich zu 80% aus Aromen. Wenn wir die Geschmacksqualität analysieren, arbeiten wir deshalb ein wenig wie ein Parfümeur oder ein Önologe. Wir suchen Kopf-, Grund- und Herznoten, Fülle, Länge. Außerdem besteht jede Frucht, Obst oder Gemüse, aus verschiedenen Teilen - Haut, Schale, Fruchtfleisch, Blätter, Kerne -, die wiederum ihre eigenen Eigenschaften haben und sich verändern je nach Zubereitung: roh, schnell oder langsam gegart, gekühlt, schockgefroren, destilliert, geschäumt... In einer unserer Experimente nahmen wir eine Selleriestange und machten daraus drei verschiedene Gerichte. Diese Mehrfach-Verwendung einer Zutat und die verschiedenen Behandlungsarten können auch die Verschwendung reduzieren. Aus der Schale fast aller Gemüse lassen sich schmackhafte Chips machen. Deshalb ist es auch so wichtig, nach Möglichkeit unbehandelte Produkte zu verarbeiten.
 

Kommen wir nun zum Aspekt der Nachhaltigkeit in Ihrer Arbeit. Wie wichtig ist das?

Dieser Aspekt ist tatsächlich sehr wichtig, wenn nicht sogar ausschlaggebend. Der Ansatz der nachhaltigen Entwicklung bedeutet die Berücksichtigung des kompletten Zyklus des Lebensmittels, von der Mistgabel bis zur Essgabel und darüber hinaus bis zur Rückführung der Reststoffe in die Natur. Diese Bedingung ist tatsächlich eine Stimulans für die Kreativität und die Innovation. Ich denke an den "lipogrammatischen" Roman von Georges Perec, in dem der Buchstabe "e" nicht vorkommt. Wenn ich nun bestimmte Dinge ausschließe, wie chemische Zusätze, künstliche Farbstoffe, zu viel Zucker und Salz, dann sublimiere ich das Beste, was uns die Natur liefert. Um eine Veränderung unseres Verhaltens und unserer Gewohnheiten zu bewirken, müssen wir auch Pädagogie betreiben und unsere Ideen in die Bevölkerung bringen. Deshalb besuche ich 10- bis 15-mal im Jahr Schulen. Durch Bücher und Auftritte in den Medien beteilige ich mich an der Verbreitung unserer Ideen, damit das Interesse aller Bevölkerungsschichten für eine gesündere und umweltfreundlichere Küche geweckt wird und sich popularisiert. Auch wenn wir uns erst im Anfangsstadium befinden, müssen wir die Lebensmittelindustrie alarmieren und auffordern, neue Methoden umzusetzen, die wirtschaftlicher und umweltfreundlicher sind. Wir müssen ihnen praktische Wege zeigen, damit sie Lebensmittel für die Massenmärkte herstellen können, ohne die Produkte zu verfälschen.

 

Wie passt die seit einem Jahr existierende Zusammenarbeit mit Les vergers Boiron in dieses Konzept?

Es ist eine Partnerschaft mit einem Produzenten von natürlichen Produkten, der den Geschmack sorgfältig ausgesuchter und erntereif gepflückter Früchte zu sublimieren sucht und die geschmacklichen Qualitäten unverfälscht bewahren möchte. Im Labor verfolgen wir heute mehrere gangbare Wege für die Zukunft. Im Frühsommer, wenn Les vergers Boiron Chefs aus der ganzen Welt versammelt, hoffen wir, sie mit neuen Ideen zu beeindrucken, welche die Grenzen des Geschmacks und der Kreativität verschieben.
 
 
 
 
 
 
Mai 2018